"Der umhegte Raum"
–
eine theoretische Überlegung zu einer nicht nur jungsteinzeitlichen Erscheinung
www.jungsteinsite.de - Artikel vom 16. Mai 2000
Markus Vosteen
Kaum eine
archäologische Objektgruppe wird zur Zeit derart kontrovers diskutiert wie die
unter dem Hilfsbegriff "Erdwerk" zusammengefaßten Wall-Graben-Anlagen
des Neolithikums. Vertreter einer profanen Nutzung stehen Befürworter einer
sakral-rituellen Deutung gegenüber, während "Multifunktionalisten"
für eine vielfältige Nutzung der Anlagen plädieren. Markus Vosteen erkundet
im folgenden die religiös-symbolische Dimension des "umhegten
Raumes".
"The
enclosed space" - theoretical considerations on a not exclusively Neolithic
phenomenon
In 1999 D. Raetzel-Fabian published an article on the
interpretation of Neolithic monumental causewayed enclosures in west Central
Europe. As a result "the enclosed space" is attributed to the realms
of ritual, mortuary practices and - in a wider sense - of cultural consolidation,
communication and representation. The following article by Markus Vosteen additionally concentrates on the sacred dimension of space as
a universal
phenomenon - the creation of boundaries in space and time to separate the sacred
and the profane. As sacred time appears to be delimited, he argues in the case
of the Neolithic enclosures for a periodical succession of religious and
domestic activities, a pattern which would help to understand the frequently observed
and embarrassing "mixture" of specific features on one site.

1999
publizierte D. Raetzel-Fabian eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zu den
funktionalen Aspekten jungneolithischer Monumental-Erdwerke (Raetzel-Fabian
1999). Er kam dabei zum Ergebnis, daß die Erdwerke wenige gemeinsame
architektonische Merkmale aufweisen, so daß ihre konkrete Funktionalität wohl
keine generalisierenden Schlüsse erlaube. Was diesen Bauwerken allgemein
zugesprochen werden könne, sei eine hochgradig integrative und konsolidierende
Funktion für die einbezogenen Gemeinschaften und ein hoher ideologischer
Stellenwert, der auch in Bezug zu den in Erdwerken vollzogenen Totenriten stehe
(Raetzel-Fabian 1999, 106).
Wenn
als architektonisches Merkmal die Bauwerke selbst betrachtet werden, so ergibt
sich doch ein allen Anlagen gemeinsames bauliches Kennzeichen: die Gräben.
Unabhängig davon, ob und welche Innenbebauung die einzelnen Anlagen aufwiesen
und welche unterschiedlichen Funktionen dadurch gewährleistet werden sollten,
sind allen Erdwerken Grabenstrukturen gemeinsam. Daraus läßt sich auf eine
zentrale Bedeutung der Anlage solcher Vertiefungen für die Nutzung der Erdwerke
schließen.
Für
die Archäologen stellen diese Gräben eine interpretatorische Herausforderung,
die diese erst einmal aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz heraus zu deuten
versuchen, z. B. als fortifikatorische Bauten. Die bisher geäußerten
unterschiedlichen Interpretationsansätze lassen sich allerdings auf einen
kleinen gemeinsamen Nenner bringen: Die Gräben dienten als Begrenzung und
teilen die Umgebung des Erdwerkes in ein „Innen“, den umfriedeten Raum, und
in ein „Außen“, die Umwelt.
Um den
Sinn einer solchen Einteilung ist von archäologischer Seite aus schon viel
spekuliert worden, ohne zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen
(zusammenfassend bei Raetzel-Fabian 1999, 81 ff.). Deshalb soll an dieser Stelle
einmal unter einem anderen Blickwinkel an diese Erscheinung herangegangen
werden. Aufgrund der neuerdings herausgestellten funeralen Aspekte der Erdwerke
liegt hierfür eine Einbeziehung religionsgeschichtlicher Überlegungen nahe.
Das
Todesereignis stellt in unserer heutigen, modernen Weltansicht meist das Ende
der individuellen Existenz dar. In traditionellen Gesellschaften sieht dies ganz
anders aus; nach den Worten des Religionsgeschichtlers M. Eliade (1978, 43) wird
„ [...] der Tod überall in der traditionellen Welt als eine zweite Geburt,
als Beginn eines neuen, geistigen
Daseins angesehen. Aber diese zweite Geburt ist nicht natürlich wie die erste
biologische Geburt, d.h. sie ist nicht ‘gegeben’, sondern muß rituell
geschaffen werden. In diesem Sinne ist der Tod eine Initiation, eine Einführung
in eine neue Seinsweise.“ Auch in der Religionsphänomenologie trifft man auf
verwandte Ansichten: „[...] der Tod ist eben keine Tatsache, sondern nur ein
vom Leben verschiedener Zustand. [...] dem Wesen nach ist der Tod bloß ein Übergang
wie ein anderer [...]“ (Leeuw 1977, 233).
Um den
Vorgang des Todes als Beginn eines zweiten Lebens sehen zu können, muß dieser
neue Lebensabschnitt in einer entsprechenden Weltansicht verankert sein.
Hauptbestandteil dieser Weltansicht ist die Akzeptanz eines „Totenlandes“ im
Jenseits, in dem die Verstorbenen „leben“ und mit den Hinterbliebenen
interagieren können. In diese Welt muß das verstorbene Individuum gelangen können.
Diese Vorstellung scheint ein universales Charakteristikum in traditionellen
Gesellschaften zu sein (Vosteen 1999, 145 f.): „In den einfachen Religionen
findet man fast überall die Vorstellung von einem ‘Land der Toten’ [...].
Das vorherrschende Bild ist jenes einer analogen Welt, in welche alle nach
voller Lebensdauer Gestorbenen, nicht aber die durch vorzeitigen ‘bösen
Tod’ Dahingerafften, nach erfüllten Totenriten eintreten. Lebensform und
soziostrukturelle Positionen sind denen des früheren Lebens ähnlich. Als Ahnen
wird ihnen aber eine gewisse Transzendenz, eine ihrem Status entsprechende höhere
Macht zuerkannt, dieses als ideelle und rituelle Basis für ihre Interaktionen
mit ihren lebenden Nachkommen.“ (Huber 1985, 720).
Der Übergang
in diese analoge Welt wird mittels der Vornahme der Totenriten durch die
Hinterbliebenen gewährleistet. Dafür ist es wichtig, eine geographische Region
zu definieren, in der die Grenzen zwischen der diesseitigen und der jenseitigen
Welt aneinanderstoßen, um den Übergang von der einen in die andere zu ermöglichen
(Eliade 1990, 36). Gewöhnlich ist diese geographische Region im Totenritus das
Grab selbst.
Bei der
Betrachtung der gesamten Weltansicht traditioneller Gesellschaften ist natürlich
nicht nur das Grab ein solcher Bereich: Nach Eliade (1954, 423) stellen sakrale
Monumente aller Art eine Kreuzung verschiedener kosmischer Bereiche dar. Die
Stellen, an denen Monumente zur Kontaktaufnahme mit dem Numinosen erbaut werden,
gelten in der jeweiligen Weltansicht als heilige Orte: „Während sich aus der
geometrischen Fläche der Erde keine qualifizierte Differenzierung ergibt, sind heilige Stätten aus der sie umgebenden Welt herausgenommen und
vermitteln somit eine sakrale Ordnung
des Raumes. Diese Bedeutung erlangen bestimmte Orte dadurch, daß sie als Stätten
der Begegnung von Immanenz und Transzendenz, als Aufenthalts- und Verehrungsstätten
einer Gottheit gelten, daß sich an ihnen Wunder, Orakel, Offenbarungen oder
bedeutsame Ereignisse im Leben eines Religionsstifters vollzogen. Heilige Stätten
sind durch Meidungsgebote vor dem Betreten Unbefugter geschützt, sie sind Orte
des Kultes [...]. Jeder natürliche Raum kann durch Offenbarung oder menschliche
Setzung zur heiligen Stätte werden. Flüsse, Seen, Steine, Berge und Grotten
werden als heilig angesehen. Auch das Grab, das die Beziehungen zu
Ahnengeistern oder zu einem Heiligen vermittelt, ist ein sakraler Platz.“ (Lanczowski
1978, 72 f.).
Wie im
letzten Zitat schon anklingt, kann sich der „normale“ Sterbliche gewöhnlich
nicht ohne weiteres den sakralen Plätzen nähern. Er muß sich zunächst
entsprechend weihen, das Heilige erfahren, bevor er einen solchen Ort aufsuchen
kann (Goldammer 1960, 199). Interessanterweise ergeben die
religionswissenschaftlichen Untersuchungen, daß die heiligen Räume in dieser
Hinsicht ein universales Charakteristikum haben: „So verschiedenartig und
verschieden entwickelt heilige Orte sein können, sie haben einen Zug gemeinsam:
es gibt einen abgegrenzten Bereich, der (in dann sehr verschiedener Form) die
Kommunion mit dem Heiligen möglich macht.“ (Eliade 1954, 417). Diese
Abgrenzung steht sogar am Beginn jeglicher an einen Ort gebundenen religiösen
Handlung: „Die Heiligung beginnt damit, daß aus dem Ganzen des Raumes ein
bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und
gewissermaßen religiös umfriedet und umheget wird.“ (E. Cassirer 1925,
zitiert nach: Leeuw 1977, 445 Anm. 1).
Ein
ungewolltes Überschreiten solcher Grenzen kann nicht im Interesse derjenigen
stehen, die an solche Grenzen und an diejenigen dahinterstehenden religiösen Überzeugungen
glauben. Insofern wäre zu folgern, daß entsprechende Begrenzungen nicht nur
optisch sichtbar gemacht, sondern auch als physisches Hindernis angelegt werden.
Wie oben angeführt, ist das alleinige gemeinsame Kennzeichen der
jungneolithischen Erdwerke eine solche physische Grenze. Analog zu den
Erkenntnissen der Religionsgeschichte eröffnet sich damit eine Deutungsmöglichkeit
- die bei Raetzel-Fabian (1999, 105) als „Reglementierung des Zugangs in einen
Innenraum“ angesprochen wird -, nach der die Umfriedungen als Begrenzungen
heiliger Räume gedacht werden können: Heilige Räume, die nach ihren Ausmaßen
nicht für individuelle Bedürfnisse errichtet wurden, sondern eher eine
gemeinschaftliche Funktion für die erbauenden Gesellschaften hatten. Die in den
jeweiligen Erbauergesellschaften herrschenden religiösen Weltansichten könnten
die anderen fehlenden gemeinsamen Merkmale erklären helfen: Lokale Unterschiede
in den Ansichten über numinose Mächte und die Art des Zugangs zu diesen führen
zu Unterschieden in der Religionsausübung und den mit diesen in Verbindung
stehenden Riten und deren dinglicher Umsetzung. Den Erdwerken könnte somit eine
Funktion bei der Aufrechterhaltung der weltlichen und sakralen Ordnung zukommen,
die durch Handlungen der Lebenden im Kontakt mit dem Numinosen an bestimmten
Orten gewährleistet werden sollte.
Bei
universaler Geltung der Regeln für den Aufbau heiliger Räume sollte sich das
Phänomen „Umfriedung“ nicht nur für das Jungneolithikum feststellen
lassen. Tatsächlich ist diese Erscheinung schon bei bandkeramischen Erdwerken
feststellbar und - so man will - bis in die Eisenzeit hinein verfolgbar: als
Ringgräben um hallstattzeitliche Grabhügel. Die übliche Interpretation
„Erdentnahmegraben zur Hügelaufschüttung“ kann für diese Vertiefungen
nicht generell gelten, sind diese doch oftmals nicht tief genug, um die benötigte
Erde bereitzustellen. Sie lassen sich ebenfalls besser als optisch und physisch
sichtbar gemachte Grenze interpretieren: zwischen der profanen und der sakralen
Welt. Als rezentes Beispiel lassen sich hier die Ummauerungen unserer Friedhöfe
anführen, die zum einen die Aufgabe haben, eine Störung der Totenruhe zu
vermeiden, aber andersherum ursprünglich wohl auch dazu dienten, die Lebenden
vor den Toten zu schützen.
Die
Einbeziehung des Konzeptes des Heiligen in die Interpretation archäologischer
Befunde erlaubt es im Fall der Erdwerke, die bisherigen Ansätze miteinander zu
verbinden. Ein heiliger Raum kann durchaus „Kultstätte“ und „Siedlung“
in einem sein, wobei die jeweilige Nutzung durch die „heilige Zeit“
vorgegeben wird: Riten mit gemeinschaftlicher Funktion können nicht beliebig
vollzogen werden, sondern sind meist an wiederkehrende Zyklen, etwa den
Jahresablauf, gekoppelt (Eliade 1954, Kap. XI). Eine profane oder profanisierte
Nutzung der Anlagen ist außerhalb der heiligen Zeit durchaus denkbar und muß
nicht in Widerspruch zu kultischen Handlungen stehen, vielmehr können beide
Nutzungen, profane wie sakrale, im damaligen Denken zwei Aspekte ein und
derselben Angelegenheit gewesen sein.
Literatur
Eliade,
Mircea:
Die Religionen und das Heilige: Elemente der Religionsgeschichte. Salzburg
1954.
Eliade,
Mircea:
Das
Okkulte und die moderne Welt: Zeitströmungen in der Sicht der
Religionsgeschichte. Salzburg 1978.
Eliade,
Mircea:
Das
Heilige und das Profane: Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M. 1990.
Goldammer,
Kurt:
Die Formenwelt des Religiösen: Grundriß der systematischen
Religionswissenschaft. Stuttgart 1960.
Huber,
Hugo:
Tod und Fortleben in schwarzafrikanischer Sicht. In: Bernhard Mensen
(Hrsg.), Jenseitsvorstellungen verschiedener Völker. Vortragsreihe 1984/85.
Akademie Völker und Kulturen St. Augustin. Siegburg 1985, 11-23.
Lanczowski,
Günter:
Einführung in die Religionsphänomenologie. Darmstadt 1978.
Leeuw,
Gerardus van der:
Phänomenologie der Religion. Tübingen 1977.
Raetzel-Fabian,
Dirk:
Der umhegte Raum - Funktionale Aspekte jungneolithischer
Monumental-Erdwerke. Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 81, 1999,
81-117.
Vosteen,
Markus:
Urgeschichtliche Wagen in Mitteleuropa: Eine archäologische und
religionswissenschaftliche Untersuchung neolithischer bis hallstattzeitlicher
Befunde. Freiburger archäologische Studien 3. Rahden/Westf. 1999.
©
Markus Vosteen 2000
Dr.
Markus Vosteen M.A.
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